Die diesjährigen Programmschwerpunkte:
Arabischer Schwerpunkt
Anna Świrszczyńska: «Eine poetische Reportage»
Menschenrechtsarbeit aus dem Exil: «Memorial» zu Gast in Leukerbad
«Verschwundene Orte» – unterwegs im Wallis
«Seinetwegen»: Übersetzungskolloquium mit Zora del Buono
Die «Geschichten aus 1001 Nacht», der fliegende Teppich, der Lampengeist – verheissungsvolle Narrative aus der arabischen Erzähltradition, die einen festen Platz in unseren kollektiven Phantasiewelten haben. Doch was ist mit der aktuellen arabischen Literatur? Unmöglich schon von «einer» arabischen Literatur zu sprechen; arabischsprachige Autor:innen auf der ganzen Welt reflektieren in ihrem Schreiben das Heute und nehmen Bezug auf die reichhaltige Tradition ebenso wie auf aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Doch noch kommt wenig bei uns in den Buchhandlungen an, und es findet noch weniger Reflektion und Austausch über aktuelle Titel statt. Darum führt das Literaturfestival Leukerbad die im letzten Jahr begonnene Zusammenarbeit mit Litprom und dem Sheikh Zayed Book Award 2025 weiter und lädt wiederum Autor:innen ein, die in den letzten Jahren mit dem Book Award ausgezeichnet wurden oder auf der Shortlist standen.
Ziel des Sheikh Zayed Book Award, einem der renommiertesten und höchstdotierten Preises der arabischen Welt mit Sitz in Abu Dhabi, ist es die Arbeit von Wissenschaftler:innen und Autor:innen zu würdigen, die einen wichtigen Beitrag zu zeitgenössischer Literatur, Sozialwissenschaft, Kultur und Wissenserwerb geleistet haben. Die Koordination der Aktivitäten im deutschsprachigen Raum übernimmt Litprom e.V., Türöffner für das Literaturfestival Leukerbad ist Mustafa Al-Slaiman, der schon lange fürs Festival moderiert und dolmetscht.
Mit Stefan Weidner und anderen.
Weitere Angaben, Ort und Zeit siehe Detailprogramm
Der Literatur-Nobelpreisträger Czesław Miłosz schrieb zu Anna Świrszczyńskas Gedichtband
Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts und Professor an der TU Darmstadt, hat die Gedichte von Anna Świrszczyńska ins Deutsche übertragen. Im Gespräch mit Verleger Christian Ruzicska wird er die Dichterin und ihr Werk vorstellen.
Das wunderbare Bild
Im Dreck starb ein wunderbares Bild,
zersiebt von Kugeln,
getreten von Schuhen
im Kugelhagel laufender Menschen,
zwei Schuhe blieben stehen,
zwei Hände packten es,
trugen es durch die Salven,
bis sie es in den Dreck sinken liessen,
Blut rann über das Bild,
der Körper fiel,
das wunderbare Bild
starb später.
Aus «Ich habe eine Barrikade gebaut»
Ort und Zeit siehe Detailprogramm
Der Umgang mit Memorial steht beispielhaft für die zunehmende Repression des Putin-Regimes gegen unabhängige Stimmen in der russischen Zivilgesellschaft: Schon länger war die Arbeit der Organisation, die seit 1989 der Aufarbeitung sowjetischer Staatsverbrechen und der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen verschrieben ist, immer stärker eingeschränkt worden. Im Jahr 2016 wurde Memorial zum «ausländischen Agenten» erklärt und musste sich strengen Auflagen und Kontrollen unterwerfen.
Am 28. Februar 2022, kurz nachdem Russland seinen Grossangriff auf die Ukraine gestartet hatte, wurde die Organisation schliesslich samt ihrem Moskauer Menschenrechtszentrum für illegal erklärt und per Gerichtsbeschluss aufgelöst. Viele Mitarbeiter:innen sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen.
Aber Memorial lebt weiter – in derzeit 13 internationalen Ablegern und auch in der von Irina Scherbakowa gegründeten Organisation Zukunft Memorial. Im Dezember 2022 wurde Memorial der Friedensnobelpreis verliehen. Am Literaturfestival Leukerbad spricht die seit 2022 im Berliner Exil lebende Memorial-Mitgründerin, Germanistin und Historikerin Scherbakowa mit Karl Schlögel und Kerstin Holm über die momentane Situation von Memorial und der russischen Zivilgesellschaft.
Ort und Zeit siehe Detailprogramm
Über Memorial
Aufarbeitung sowjetischer Geschichte
Die Gründung von Memorial reicht bis ins Jahr 1987 zurück. Die «Gesellschaft Memorial» gibt es seit Januar 1989, und der Name verweist auf die Gedenkorte, die zu dieser Zeit quer durch die Sowjetunion entstanden. Die Zielsetzung damals: ein Denkmal für die Opfer der politischen Repression in der Sowjetunion – und damit eine symbolische Vollendung des politischen Umgestaltungsprozesses Perestrojka.
Bald wurde klar: Um einen Gedenkort einrichten zu können, müssen zunächst einmal Täter und Opfer benannt werden – und das entpuppte sich als aufwändige historische Forschungsarbeit. Heute verfügt Memorial über eine wissenschaftliche Expertise und Datenbank zu politischer Repression in der Sowjetunion, die ihresgleichen suchen, zudem entstanden eigene Museen und Bibliotheken.
Arbeit heute
Diese Aufarbeitung ist alles andere als vollendet. Memorial hat seine Arbeit aber längst im Sinne eines «historisch-aufklärerischen » Ansatzes erweitert: Die historische Arbeit zur politischen Verfolgung in der Sowjetunion und die Menschenrechtsarbeit zu aktuellen russischen Fällen seien untrennbar miteinander verbunden. Im Sinne der politischen Bildung will Memorial darüber hinaus vor allem junge Menschen für problematische Wechselbeziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum sensibilisieren.
Politischer Druck und Verfolgung
Schon vor dem Verbot war die Arbeit von Memorial seit mindestens zehn Jahren massiv eingeschränkt worden. Ein 2012 verabschiedetes «Agentengesetz» wurde 2020 noch einmal verschärft: Damit wurden nicht nur Organisationen zu «ausländischen Agenten» gemacht, die – wie Memorial – Zuwendungen aus dem Ausland erhielten, sondern auch Einzelpersonen unter «ausländischem Einfluss» – eine völlig willkürliche Festlegung. Ein weiteres staatliches Register erfasst diejenigen, die mit «ausländischen Agenten verbunden» sind. Für die Betroffenen bedeutet diese Stigmatisierung beispielsweise, dass sie in staatlichen Bildungseinrichtungen nicht mehr arbeiten können. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat 2022 entschieden, dass dieses Gesetz im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Russland erkennt jedoch die Urteile des EGMR nicht an und ist im März 2022 aus dem Europarat ausgetreten.
Das PEN-Zentrum Deutschland bezeichnete Memorial in einer gemeinsamen Erklärung mit weiteren deutschen Nichtregierungsorganisationen als das «moralische Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft» und als eine Organisation, die «Versöhnung innerhalb der eigenen Gesellschaft und mit seinen Nachbarn sucht», bezeichnet wurde. Mit dem Verbot unterbinde der russische Staat «die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte».
memo.site
«Verschwundene Orte», also Orte, die früher einmal wichtige Fixpunkte des Lebens waren und heute verlassen, verfallen oder gar nicht mehr existent sind, gibt es viele im Wallis: Hotels und Restaurants, die, teils an zentralen Orten gelegen, still und stumm geworden sind und ihre Nachbarschaft doch noch immer prägen. Fabrikgebäude, die nicht mehr genutzt werden, weil die Produktionsstätten ein neues, grösseres Zuhause gefunden haben oder die Produktion eingestellt wurde. Bauprojekte, die begonnen, aber nicht vollendet wurden, viele Hoffnungen geweckt und enttäuscht haben. Grasüberwucherte Wege, die früher wichtige Verkehrsadern waren. All diese Orte zeugen von der Geschichte und bergen Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden.
Das Internationale Literaturfestival Leukerbad und die Walliser Schriftsteller:innen Rolf Hermann und Céline Zufferey gehen den Spuren verschwundener Orte im Wallis nach; Orte, die in der näheren oder weiteren Walliser Geschichte Knotenpunkte waren für Einheimische, Zugezogene und Reisende, die Sehnsuchtsorte waren und sich im Heute als Ansammlung verlassener Gebäude, verpuffter Verheissungen und (allzu) grosser Pläne zeigen – die also Ausgangsorte für Geschichten, moderne Legenden oder literarische Notizen sind.
Diese Geschichten zu schreiben, und damit die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und dem zeitgenössischen Literaturschaffen anzuregen, ist Ziel des Projekts «Verschwundene Orte».
Am Literaturfestival Leukerbad lesen die beiden Autor:innen aus ihren Geschichten und berichten von ihren Recherchen. Rolf Hermann hat sich dem seit 2007 leerstehenden Torrenthotel angenommen, Céline Zufferey ist dem alten Lauf der Rhone, im deutschsprachigen Teil des Wallis «Rotten», gefolgt.
Mit Rolf Hermann und Céline Zufferey
Ort und Zeit siehe Detailprogramm
Eintritt frei
Aus Dieser herrliche Erdenfleck von Rolf Hermann:
«Ungläubig starre ich auf den Bildschirm. Meine Beine wippen, die Knie stossen hart gegen die Tischplatte. Plötzlich bin ich nervös. Wer meldet sich jetzt bei wem? Die Verkäufer:innen bei mir oder ich mich bei den Verkäufer:innen? Muss das noch analog unterschrieben werden? Kann der Deal noch platzen? Ist das Gebäude renovationsbedürftig? Wie steht es um die Küchenausstattung, die Fritteusen? Kann ich mit einer Lesung eine Fritteuse querfinanzieren? Wie oft müsste ich auftreten? Dreimal? Zehnmal? Hundertmal? Wie viele Fritteusen brauche ich überhaupt?
Ich lege die glühende Stirn auf die kühle Tischplatte. Was habe ich bloss getan?
Vor einer Stunde stand ich auf und beschloss: Jetzt wird angefangen. Ich setzte mich an den Küchentisch und googelte das Hotel. Sofort überschwemmten Links den Bildschirm. Ein Bild sprang mir ins Auge: 1972 Leukerbad Hotel Torrenthorn / Kaufen. Ich klickte drauf. Darunter stand: Angebot, 5 Franken. Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich. Ein Hotel für den Preis eines Raclette? Unmöglich!
Und genau in diesem Moment verschob sich etwas in mir. Ich spürte, wie eine tiefsitzende Sehnsucht in meinem Innern erwachte. Unzählige Pommes- und Ovomaltine-Momente, die ich mit meinen Brüdern und Eltern auf der Terrasse des Torrenthotels erlebt hatte, keimten tief in mir auf, bahnten sich einen Weg, erstrahlten in unwiderstehlichem Glanz.
Ein geradezu paradiesischer Zustand: Unsere kuhähnlich kauenden Münder, die voll sind mit dem salzig-süsslichen Brei; unsere Augen, die über eine Landschaft schweifen, die wir uns kaum erhabener vorstellen konnten; und mein jüngster Bruder, der neben mir sitzt und der den Satz sagt, der uns allen aus der Seele spricht: «Das isch där schönscht Platz va där Wält.»
Und so geschah, was geschehen musste: Der Sehnsuchts-Autopilot übernahm. Er liess mich ein Benutzerkonto anlegen und die erforderlichen Felder ausfüllen – Name, Adresse, Kreditinformationen, E-Mail. Dann gab ich mein Gebot ab, und schon erschien die Bestätigung: Sie haben das Objekt erfolgreich ersteigert. Voilà. So schnell wird man heute Hotelbesitzer.»
Aus Dans les méandres disparus du Rhône von Céline Zufferey:
«Dans le sous-sol de ma maison, l’eau monte et descend. C’est un espace inoccupé, qui fait la superficie du logement, on ne s’y tient que courbé, on y accède par une porte au fond du garage, plus basse qu’une porte normale, elle n’a pas de poignée, c’est comme l’entrée d’une grotte. Je n’y ai pas pénétré souvent, je suis surtout restée sur le seuil. Je me souviens regarder mon père s’aventurer là-dedans plié en deux, avec de hautes bottes pendant que j’éclairais son chemin à la lampe de poche. Notre maison n’a jamais été inondée, alors je n’avais pas peur de cette eau si proche, ça m’amusait plutôt de savoir que sous ma chambre, sous les catelles propres et le salon bien rangé, il y avait de l’eau qu’il fallait surveiller.
(…) Je ne me rendais pas compte que le fleuve charriait autant d’alluvions, à quel point notre paysage était minéral, alors que je vis tout près d’une gravière. A chaque fois que j’y passais, je m’interrogeais sur ses tas de sable, tout proches de la route, plus hauts que notre voiture. Je ne comprenais pas pourquoi ils les laissaient à l’air libre, la pluie ne risquait-elle pas de les faire s’écrouler ? J’ai l’impression de ne l’avoir jamais vu en marche, c’était une chose encore mystérieuse, une sorte d’usine immobile entourée de monticules qui semblaient avoir toujours la même taille. Je n’ai jamais pensé qu’ils étaient tirés du Rhône, pour empêcher justement que l’eau ne monte au-dessus du niveau de ma maison. (…)
Pour se prémunir des alluvions qui font s’élever le niveau du fleuve on ne compte pas que sur les gravières. En resserrant son lit, on a augmenté son courant et c’est le Rhône lui-même qui se charge de débarrasser loin de la vallée les galets, limons et argiles qu’il transporte depuis les montagnes. Le fleuve devient rapide, dangereux, attention ne pas l’approcher, si on tombe on est emportés, et alors il n’y a plus rien à faire. Les corrections et rétrécissements ont fait du Rhône un non-lieu, l’eau ne fait que passer et n’abrite plus rien.»
Haben Sie auch Geschichten zum Torrenthotel oder der Rhone zu erzählen? Erzählen Sie sie uns am Festival oder schreiben Sie eine E-Mail an Anna Kulp (kulp@literaturfestival.ch).
Übersetzerinnen und Übersetzer sind nicht nur besonders gewissenhafte Leser, sondern auch wichtige Vermittler zwischen Sprachen und Kulturen. In Kooperation mit dem Literarischen Colloquium Berlin (LCB) und unterstützt durch die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, das Centre de traduction littéraire Lausanne (CTL) und Palais Valais lädt das Internationale Literaturfestival Leukerbad seit 2006 Übersetzerinnen und Übersetzer deutschsprachiger Literatur ins Wallis ein, die sich mit Literatur aus der Schweiz beschäftigen.
Im Mittelpunkt des zweitägigen Workshops steht immer ein aktuelles Werk eines Schweizer Autors, einer Schweizer Autorin – in diesem Jahr Zora del Buonos Roman
Sechs Übersetzerinnen und Übersetzer haben Passagen aus
Michel Bolwerk lebt als Übersetzer und Lektor in Amsterdam, übersetzte unter anderem Werke von Romy Hausmann, Uwe Wittstock und Zora del Buono ins Niederländische.
Carla Imbrogno lebt in Buenos Aires und übersetzt schwerpunktmässig Schweizer Literatur ins Spanische, darunter Mariella Mehr, Ilma Rakusa, Levin Westermann und Gianna Molinari.
Hafiza Kuchkarova aus Taschkent ist Übersetzerin ins Usbekische, unter anderem von Jenny Erpenbeck, Franz Hohler, Dorothee Elmiger, Daniel Glattauer und Sasha Marianna Salzmann.
Anna Lindberg, 1982 geboren, ist Schriftstellerin und Übersetzerin u. a. von Monika Rinck, Emine Sevgi Özdamar und Joan Didion ins Schwedische. Als Fotografin war ihr grösstes Projekt die Ausstellung «The Invisible People», die literarische Übersetzer:innen porträtierte.
Benjamin Pécoud lebt als Übersetzer in Lausanne, übersetzt unter anderen Ariane Koch und Zora del Buono ins Französische, und ist Mitglied des Autorenkollektivs «Caractères mobiles».
Imogen Taylor, geboren in London, lebt seit 2001 in Berlin. Sie übersetzt aus dem Deutschen und Französischen ins Englische, unter anderem Werke von Julia Franck, Dana Grigorcea, Sasha Marianna Salzmann und Judith Schalansky.
Jürgen Jakob Becker ist Programmkurator im Literarischen Colloquium Berlin und Geschäftsführer des Deutschen Übersetzerfonds. Er leitet die Übersetzungskolloquien beim Literaturfestival.
Kerstin Martinez Griese studiert am Centre de traduction littéraire in Lausanne und begleitet den Workshop.
Einblick ins Übersetzungskolloquium: Samstag, 21. Juni
Ort und Zeit siehe Detailprogramm
Eintritt frei
Zu den Gastautoren des Übersetzungskolloquiums gehörten bisher
30. Internationales Literaturfestival Leukerbad: