Die diesjährigen Programmschwerpunkte:
Schwerpunkt: 100 Jahre Baldwin
Teju Cole: Blind Spot
Zugunruhe: Übersetzungskolloquium mit Levin Westermann
Leukerbad und die internationale Literatur – das ist eine Verbindung, die lange vor der Gründung des Internationalen Literaturfestivals Leukerbad 1996 beginnt. Traditionell wird bei der literarischen Geschichte des Dorfes erwähnt, dass Goethe eine Nacht hier verbracht hat, und dass Guy de Maupassant seine schaurige Geschichte Das Gasthaus im Berghotel Schwarenbach hoch über Leukerbad ansiedelte, doch in den letzten Jahren wandert langsam aber beharrlich eine weitere Geschichte ins Bewusstsein:
Leukerbad, das kleine Oberwalliser Bäderdorf, ist der Ort, den James Baldwin (1924–1987) in seinem Essay Stranger in the Village beschreibt. Der Essay wird später Teil des Buches Notes of a Native Son. Baldwin reflektiert darin seine Erfahrungen im Leukerbad der 1950er-Jahre und vergleicht den Rassismus, den er hier als erster Schwarzer im Dorf erlebt, mit dem Rassismus, den er in den USA und Frankreich erlebt hat.
Er erzählt wie die Kinder ihm begegnen, anfangs angetrieben von der Frage, ob er wohl abfärbt, später schliesst er Freundschaften mit einigen von ihnen, und er erzählt von den ehrlichen Bemühungen der Kirchgänger die Seelen der Schwarzen mit ihrem Fastenopfer zu retten. Wo er im damals 600-Seelen-Dorf Leukerbad einen mehrheitlich auf Unwissenheit basierenden Rassismus vorfindet, erlebt er in seiner Heimat Erniedrigung, Abwertung und die Selbstverständlichkeit weisser Privilegien. Doch er bleibt in beiden Fällen Fremder.
James Baldwins Leukerbad Aufenthalte haben es ihm ermöglicht seinen ersten Roman Go Tell It on the Mountain (deutscher Titel: Von dieser Welt) zu beenden. Hier hat er die nötige Ruhe zum Schreiben gefunden, hier waren die Ablenkungen der Grossstadt weit genug entfernt. Zu seinem 100. Geburtstag widmen wir ihm nun einen Schwerpunkt.
Fotoausstellung, 14.–30.6.2024: Teju Cole war 2014 auf den Spuren Baldwins in Leukerbad und hat seine Eindrücke in dem Essay Schwarzer Körper verarbeitet. In seinem Projekt Blinder Fleck deckt Teju Cole dank der Verschränkung von Text und Bild versteckte Machtstrukturen auf – zahlreiche Bilder und Texte sind in der Schweiz entstanden. Die Werke wurden erstmals 2018 im Strauhof (Zürich) gezeigt, jetzt sind sie in Leukerbad zu sehen.
Multimediale Lesung mit Rolf Hermann: Rolf Hermann hat Bild und Ton dabei, um das Leukerbad der 50er-Jahre und die Erfahrungen des Fremden im Dorf lebendig zu machen.
Dorfspaziergang mit Sasha Huber: Sasha Huber nimmt uns mit zum Burg Hüsli, dem Chalet, in dem James Baldwin in Leukerbad untergebracht war und an dem sie ihn mit Metallklammern porträtiert hat (das Kunstwerk ziert das Cover des diesjährigen Programmhefts).
Baldwin, einmal neu bitte!: Miriam Mandelkow hat sich einer grossen Aufgabe gestellt, sie übersetzt die Werke von James Baldwin neu ins Deutsche und wird am Festival darüber berichten.
James Baldwin 2024: Tash Aw, Teju Cole und Johny Pitts schauen auf das Werk James Baldwins. Welche Bedeutung hat sein Werk für sie? Wo stehen wir in der Diskussion um Baldwins Themen heute?
Ort und Zeit siehe Detailprogramm
Blinde Flecken entziehen sich dem Bewusstsein, sie stehen für das, was nicht gezeigt oder gesehen werden kann. «Blind Spot» heisst auch das Projekt des Autors und Fotografen Teju Cole. Im Zentrum von «Blind Spot» steht die poetische Beziehung zwischen Bild und Sprache: Cole führt Texte und Fotografien zusammen, bezieht sie aufeinander und verschränkt sie, sodass der Text zum blinden Fleck des Bildes wird – und umgekehrt. Was Cole sichtbar macht, sind die Komplexitäten und inhärenten Machtstrukturen unserer Gesellschaft. Die etwa 30 Arbeiten wurden 2018 im Museum Strauhof in Zürich gezeigt (Kuration Gesa Schneider) – nun sind sie im Rahmen des James Baldwin Schwerpunkts in Leukerbad zu sehen.
Blind Spot. / Blinder Fleck.
Aus dem Englischen von Uda Strätling. Hanser 2018
Hier hat man früher Frauen verbrannt. In diesen so friedlich scheinenden Kantonen wurden Frauen, die man der Teufelsbuhlschaft bezichtigte, in unvorstellbar grausamer Weise hingerichtet, um Gottes Ehre zu vermehren. Heute ist die Landschaft besiegelte Sache, wie der Ruf eines Menschen.
Das Auge liest und ordnet die gefalteten Berge. Über allen Gipfeln ist Ruh. Und doch meint der verborgene Codeschreiber in meinem Kopf, jede Zeile jedes Gedichts müsse die verwaiste Bildunterschrift eines verlorenen Fotos sein. Und analog jedes Foto im Vorzimmer der Sprache warten.
Unbestimmte Splitter der Vergangenheit bleiben unter der Haut einer Fotografie sichtbar. Die tektonischen Platten arbeiten noch im Felswerk, und es spukt eine dunkle Erinnerung an Glut. Der Unterschied zwischen Ruhe und Aufruhr ist Tempo.
Mit der Schweiz verbinde ich behagliche Ruhe. Es gab zwar mal Krieg, aber das war in der Söldnerzeit, das ist lange her. Heute ist die Schweiz neutral, gesetzt, sicher. Aber ich musste an die neuen schweizerischen Waffen denken und die vielen Orte und Körper, die dem millionenschweren jährlichen Schweizer Waffenabsatz zum Opfer fallen. Bomben, Torpedos, Raketen: verkauft an die Vereinigten Arabischen Emirate, an Saudi-Arabien, an Botswana. Die zerschossenen Bauten Beiruts.
Schnellfeuergewehre und Pistolen landen irgendwann auf amerikanischen Strassen. Mit der Schweiz verbinde ich ruhige Behaglichkeit. Was also bleibt unsichtbar? Die Todeshändler gehen emsig ihrem Präzisionsgeschäft nach. Und mir kommen Bedenken, ob ich mich mit den bei meinen Recherchen zu Handfeuerwaffen und Kriegsgerät verwendeten Suchbegriffen in den allsehenden Augen der Behörden nicht verdächtig mache. Was also bleibt unsichtbar?
Liebling. Sie haben gesagt, heute Nacht würden wir nicht über setzen. Jetzt sagen sie, wir müssten. Mein Handy verendet. Es ist eine Schwangere dabei, die gar nicht mehr aufhört zu weinen. Ich schicke dir morgen, so Gott will, eine Nachricht über Facebook.
Fotoausstellung Teju Cole – Blind Spot
14.–30.6.2024, in der Galerie St. Laurent und im Alten Bahnhof
Öffnungszeiten siehe Detailprogramm
Übersetzerinnen und Übersetzer sind nicht nur besonders gewissenhafte Leser, sondern auch wichtige Vermittler zwischen Sprachen und Kulturen. In Kooperation mit dem Literarischen Colloquium Berlin (LCB) und unterstützt durch die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, das Centre de traduction littéraire Lausanne (CTL) und Palais Valais sind auch in diesem Jahr Übersetzerinnen und Übersetzer deutschsprachiger Literatur nach Leukerbad eingeladen, die sich mit Literatur aus der Schweiz beschäftigen.
Im Mittelpunkt des zweitägigen Workshops steht immer ein aktuelles Werk eines Schweizer Autors, einer Schweizer Autorin – in diesem Jahr Levin Westermanns
Prosaband
Sie berichten im Rahmen des Literaturfestivals Leukerbad von den Ergebnissen der Werkstatt und ihrer Arbeit als Grenzgänger:innen zwischen den Kulturen.
Agnese Grieco lebt als Autorin, Regisseurin, Dramaturgin und Übersetzerin in Berlin und Mailand. Sie publizierte zuletzt den Essay «Phädras Ehre» und übersetzte u. a. Werke von Thomas Bernhard, Botho Strauß, Erika Mann und Anne Weber ins Italienische. agnesegrieco.de
Sandra Ljubas lebt in Zagreb und übersetzt schwedische und deutschsprachige Literatur ins Kroatische, u. a. Thilo Krause und Leif Randt.
Katerina Shekutkovska aus Skopje/Nordmazedonien übersetzt deutschsprachige Literatur ins Mazedonische, u.a. von Daniel Kehlmann, Lukas Bärfuss, Marion Poschmann, Joseph Vogl und Jonas Lüscher. Sie ist Gründerin und Lektorin des Ilika Verlags, Skopje.
Marina Skalova wurde in Moskau geboren, ist in Deutschland und Frankreich aufgewachsen und lebt heute in Genf. Sie schreibt an der Schnittstelle von Sprachen und Genres, publizierte Lyrik («Atemnot / Souffle court»), Theatertexte («La chute des comètes et des cosmonautes») und Übersetzungen aus dem Deutschen und Russischen ins Französische. marinaskalova.net
Dorota Stroińska wurde in Poznań geboren und lebt seit 1986 in Berlin. Sie übersetzte u. a. Lutz Seiler, Karl Jaspers, Christian Kracht, Nora Gomringer, Monika Rinck, Lisa Kränzler und Adelheid Duvanel ins Polnische. Sie leitet die Deutsch-Polnischen ViceVersa-Werkstätten und hat das Festival für Literaturübersetzung translationale berlin mitbegründet und kuratiert. dorotastroinska.de
Nelya Vakhovska lebt in Kiew und ist Mitbegründerin der Gruppe «Translators in Action». Ins Ukrainische übersetzte sie u. a. Werke von Esther Kinsky, Marjana Gaponenko, Franz Hohler, Martin Pollack und Josef Winkler.
Jürgen Jakob Becker ist Programmkurator im Literarischen Colloquium Berlin und Geschäftsführer des Deutschen Übersetzerfonds, leitet die Übersetzerkolloquien beim Literaturfestival.
Katharina Schwarck studiert am Centre de traduction littéraire der Université de Lausanne und begleitet den Workshop.
Zu den Gastautoren des Übersetzungskolloquiums gehörten bisher
Ergebnisse der Werkstatt und ihre Arbeit als Grenzgänger:innen zwischen den Kulturen:
Samstag, 22. Juni 2024, 11 Uhr
29. Internationales Literaturfestival Leukerbad: