Längst geht es am Literatur­festival Leukerbad nicht mehr nur um die Vorstellung von Büchern. In den exklusiv zusammen­gesetzten Gesprächen der «Perspektiven»-Reihe werden jedes Jahr aktuelle Themen aus Gesell­schaft, Politik und Literatur aufgegriffen und fort­geführt. In diesem Jahr:
I: Radikaler Universalismus jenseits von Identität
II: Sein oder Nichtsein
III: 1001 Literaturen des Orients
IV: Warlam Schalamow
V: Pier Paolo Pasolini

Perspektiven I:

Radikaler Universalismus jenseits von Identität

Omri Boehm im Gespräch mit Lukas Bärfuss

Der Universalis­mus geht davon aus, dass es allgemein­gültige Normen und Prinzipien gibt, und folgert daraus, dass Ideen und Rechte grundsätzlich für alle Menschen gelten müssen.

Wenn die Linke und die Rechte dieselben anti­universalistischen An­nahmen haben, dann geht es am Ende nur noch um Macht.

Omri Boehm fragt: «Ist der Universalis­mus heute noch zu retten? Ja, aber wir müssen zurück zu seinem Ursprung: Erst wenn wir den humanistischen Appell der biblischen Propheten und Immanuel Kants wirklich verstehen, können wir Ungerechtig­keit kompromiss­los bekämpfen – im Namen des radikalen Universalis­mus, nicht in dem der Identität.»

Das Menschen­recht als das höchste, glo­bale Gut, kann nur wirksam werden, wenn die Aktions- und Reaktions­weisen der Menschen – Anpassung und Wider­stand – funktionieren.

Wenn Omri Boehm von der «Ideologie der Identität» spricht, will er darauf verweisen, dass es not­wendig und für ein freiheitlich-demokratisches Leben unverzicht­bar ist, politische Meinungen, Programme und Strukturen kritisch zu hinter­fragen: «Während wir in eine Epoche eintreten, in der wir die westliche liberale Demokratie zu stärken und den Aufstieg rechts­extremer Politik und eines ethnischen Nationalis­mus zu bekämpfen haben, zugleich mit glo­balen Katastrophen und Migrations­wellen konfrontiert sind, macht es einen Unter­schied, ob wir an der Idee des universellen Humanis­mus als einen Kompass, sogar als einer Waffe festhalten, oder ob wir eine Gesell­schaft hervor­bringen, in der diese Idee verspottet oder verachtet wird.»


Thomas Ribi erläutert in der NZZ: «Omri Boehms Anliegen führt über die derzeit modischen Debatten zu ‹cultural appro­priation› hinaus. Ihm geht es um das Grund­sätzliche am identitäts­politischen Denken, das mehr und mehr zu einem Käfig wird.» Thomas Assheuer beschreibt in Die Zeit Boehms «Radikalen Universalis­mus» als «Ideal­fall einer intellektuellen Ein­mischung; sie ist dicht geschrieben und trotz­dem von grosser Klarheit.»

Perspektiven II

Sein oder Nichtsein

Lesung und Gespräch mit Klaus Pohl und Angela Winkler
Moderation Meret Matter

Im Jahr 1999 entstand die inzwischen legendäre «Hamlet»-Inszenierung von Peter Zadek mit einer Gruppe der besten Theater­schauspieler:innen der letzten Jahr­zehnte: Angela Winkler, Ulrich Wild­gruber, Otto Sander, Eva Mattes u. a. Die Probe­arbeiten dauerten mehrere Monate, die Inszenierung wurde von Strass­burg bis Wien, Zürich und Berlin vielfach gefeiert.

Der Dramatiker und Schau­spieler Klaus Pohl hat nun einen Theater-Roman geschrieben, der die Proben zu dieser «Hamlet»-Inszenierung in Erinnerung ruft. Pohl war als Hamlets Freund Horatio selbst mit von der Partie.

Es kommt zu Tragödien und Komödien, heftigen Kämpfen und zarten Liebes­geschichten, Wut und Hingabe, Konkurrenz und Freund­schaft, und am Ende entsteht das un­ver­gleichliche Glück des Ent­deckens und Gelingens. Und dies nicht nur auf der Probe­bühne, sondern im Leben aller Beteiligten, vom Regisseur bis zum Bühnen­bildner und der Souffleuse.

Auch wer sich nicht oder nur wenig fürs Theater interessiert, bekommt hier mit, dass Kunst etwas sein kann, das aus Sphären kommt, die mit Alltags­moral, politischer Korrekt­heit und rein logischem Kalkül fast nichts mehr zu tun haben, eine Theater­arbeit, die in der heutigen Wokeness-Diskussion undenkbar wäre.

Maxim Biller war ebenso begeistert – «Was für ein grandioses Buch! Wer nach der Lektüre noch einmal ins Theater geht, darf nicht später sagen, er hätte von nichts gewusst!» – wie das Literarische Quartett: «Eine grosse Metapher auf die Daseins­absurdität!» (Thea Dorn), «Was für ein herrlicher Roman!» (Ijoma Mangold), «Einer der lustigsten Irrenhaus­romane, die ich je gelesen habe!» (David Schalko)

Perspektiven III

1001 Literaturen des Orients

Ein Gespräch zur aktuellen arabischen Literatur mit Stefan Weidner und Mustafa Al-Slaiman

Der Kritiker und Essayist Stefan Weidner gilt als einer der bekanntesten Islam­wissenschaftler im deutsch­sprachigen Raum. Er ist als Über­setzer und Arabist der führende Ver­mittler nah­östlicher Poesie und Prosa ins Deutsche. Jetzt ist ihm mit dem 1001 Buch. Die Literaturen des Orients sein bisher grösster Wurf gelungen: eine Gesamt­schau arabischer, persischer und osmanischer/türkischer Literatur vom siebten Jahr­hundert bis heute. Sein Buch führt uns aus der Perspektive der begeisterten Leserin ebenso wie aus der des scharfen Kritikers auf ein viel­fältig gefächertes Terrain: zwischen Religion und Moderne, zwischen vor­islamischer Poesie und post­kolonialer Selbst­kritik.

Perspektiven IV

Warlam Schalamow

Mit Stefan Zweifel und Thomas Sarbacher

Terror und Totalitari­s­mus. Kaum jemand hat darüber Texte verfasst, die uns so tief unter die Haut gehen und in eine innere Erfahrung extremer Bedingungen stürzen wie Warlam Schalamow, der zwei­mal interniert und unter Stalin für über 15 Jahre nach Sibirien verbannt wurde. Im Gegen­satz zu Alexander Solschenizyn, der in Der Archipel Gulag gleichsam eine Vision des Lagers aus der Vogel­schau lieferte, bei der das System Stalin über- und durch­schau­bar bleibt, wird man von Schalamow in seinen fragmen­tarischen und kurzen Splittern in die Erfahrung des Lagers zurück­geworfen, wo der Verurteilte wie eine kafka­eske Figur keine Ahnung vom grossen Ganzen hat, sondern kleine existenzielle Erfahrungen aneinander­reiht, die sich erst nach und nach zu einem Mosaik des Terrors unter dem Totalitaris­mus fügen.

Schalamow hatte während seiner Ver­bannung die einzelnen Texte in seinem Kopf bereits so geordnet und ausformuliert, dass er bei seiner Rück­kehr in die Frei­heit in kürzester Zeit all diese «Perlen des Bösen» aneinanderreihen konnte. Beim Lesen und Hören dieser kurzen und kürzesten Erzählungen formiert sich im Geist der Zuhörer:innen langsam ein eigenes Nerven­netz von Schreck und Schönheit, von Ver­zweiflung und Sehnsucht.

Und plötzlich wünscht man sich, ein Krumm­holz zu sein. Gerade heute: Jener Baum, der sich kurz vor dem Einbruch des Winters, vor dem Einfall der Kälte und des Hasses, nieder­beugt, seine Äste auf den Boden legt, um zu über­wintern, bis sich die Äste kurz vor dem Frühling, kurz bevor der Hass und der Krieg vorüber sind, wieder aufrichten und vom nächsten Sommer träumen, von der Wärme und der Zu­neigung, von der Solidarität und der Gemei­nschaft der Menschen als Bruder- und Schwester­wesen gegen den Irr­sinn der Ideologie.

Perspektiven V

Pier Paolo Pasolini

Maike Albath im Gespräch mit Stefan Zweifel

Rom, Träume – in ihrem Buch bettet Maike Albath Pier Paolo Pasolini in ein literarisch politisches Triptychon über die Dolce Vita zwischen Emilio Gadda und Alberto Moravia ein. Politik, Poesie und Perver­sion verbinden sich mit den Initialen des pro­phetischen Dichters. Seine «Freibeuter­schriften» sind mit ihrer Klage gegen die repressive Toleranz und den Konsum­rausch nicht so sehr eine Analyse der 1970er-Jahre, sondern unserer heutigen Epoche.


Kommunist, Homo­sexueller und visionärer Dichter, Atheist und religiöse Seele – Pasolini war in seinem Leben immer eine kämpferische, unbequeme, un­kon­ven­tionelle Persönlich­keit gewesen. Sein «Anders­sein» symbolisiert den Protest der Poesie gegen die Um­wandlung in eine Ware, gegen die Evolution der Technik, gegen den anthropologischen Völker­mord, den er schon dunkel vorausahnt.

Sein letzter Film «Die 120 Tage von Sodom» (Salò) von 1975 gehört zu den um­stritten­sten Werken der Film­geschichte. Pasolini schliesst darin Faschis­mus und Sadis­mus kurz und stellt Ver­gewaltigung, Folter und Mord so schonungs­los aus, dass der Film bis heute in einigen Ländern nicht gezeigt werden darf. Er sagt dazu: «Ich möchte mit diesem Film meinen inner­lichen, archaischen Katholizismus ausdrücken.»