AUTORINNEN UND AUTOREN
Adriana Altaras
James Baldwin
vorgestellt von Rolf Hermann
Rolf Hermann
Sabrina Janesch
István Kemény
A. L. Kennedy
Katja Lange-Müller
Gilles Leroy
Nina Maria Marewski
Olga Martynova
Francesco Micieli
Valžhyna Mort
Melinda Nadj Abonji
Samuel Pepys, gelesen von
Gerd Haffmans und Monika Schärer
Jürgen Ritte / Oulipo
Oksana Sabuschko
Michail Schischkin
Clemens J. Setz
Sjón
Peter Stamm
Christian Uetz
Martin Walker
Anna Weidenholzer
Ernest Wichner
Adriana Altaras
Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb geboren. Sie studierte Schauspiel und gründete später in Berlin das freie Theater zum Westlichen Stadthirschen, wo sie neben der Schauspielerei auch als Regisseurin und Autorin tätig sein konnte und wo sie heute lebt. 2001 zeichnete sie für die überaus erfolgreiche deutsche Inszenierung der Vagina-Monologe verantwortlich. Aber auch ihre schauspielerischen Leistungen wurden mehrfach ausgezeichnet. Titos Brille ist ihr erstes Prosawerk.
«Die Geschichte meiner strapaziösen Familie» heisst der Untertitel des Buches, das sich einer Klassifizierung als Autobiografie oder Roman mit Erfolg entzieht. Adriana Altaras erzählt die Geschichte ihrer jüdischen Familie. Als ihre Eltern sterben, sieht sie sich mit der Hinterlassenschaft von 40 Jahren konfrontiert: kuriose Erbstücke, bewegende Briefe und uralte Fotos. Adriana Altaras lässt die Toten selbst zu Wort kommen und sie ihre Geschichte erzählen und setzt so aus vielen Bildern die Geschichte einer Familie zusammen, die zwar geprägt wurde vom Exil und der nationalsozialistischen Verfolgung, dabei jedoch immer ihre Eigenheiten und Eigenständigkeit zu bewahren verstand. Titos Brille ist witzig, warmherzig und anrührend und liefert einen klugen Blick auf die Vergangenheit und die Gegenwart. Adriana Altaras erzählt vom Exil, von irrwitzigen jüdischen Festen, von einem geplatzten italienischen Esel und einer Stauballergie, die ihr das deutsche Fernsehen einbrockte – und von vielen weiteren faszinierenden Mosaiksteinen, aus denen sich ein Leben zusammensetzt.
Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie. Kiepenheuer & Witsch 2011
James Baldwin
«Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hatte vor mir noch kein schwarzer Mann dieses kleine Dorf in der Schweiz jemals betreten. Bereits vor meiner Ankunft hatte man mir erzählt, dass ich wahrscheinlich eine ‹Sehenswürdigkeit› sein würde.» So beginnt der Essay Fremder im Dorf des afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwin. Entstanden ist der Text in Leukerbad, wo sich Baldwin zwischen 1951 und 1953 insgesamt dreimal aufhielt, um seinen ersten Roman Go Tell it on the Mountain abzuschliessen. Die Erfahrung war enorm – für die Dörfler ebenso wie für den Dichter.
Als James Baldwin in Leukerbad zu Besuch war, hatte er sich in den USA bereits einen Namen als Essayist und Rezensent gemacht. Geboren 1924 in New York als Kind einer alleinstehenden Mutter war er als Jugendlicher in der Gemeinde seines Stiefvaters als Prediger erfolgreich, was zu Konflikten mit dem Stiefvater führte. Mit 24 Jahren emigrierte er nach Frankreich, nach eigenen Angaben um dem Rassismus in New York zu entkommen. Die Bürgerrechtsbewegung unterstützte er engagiert mit teils einflussreichen Reden gegen den Rassismus und pflegte Freundschaften mit den bekanntesten Künstlern und Persönlichkeiten seiner Zeit, darunter Malcolm X und Martin Luther King.
Literarisch folgten seinem ersten Roman fünf weitere, ausserdem verfasste James Baldwin diverse Essays und einige Gedichte und Theaterstücke. Seine Sprache war von beeindruckender Tiefe, Leidenschaft und gleichzeitig messerscharfer Präzision. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Rolf Hermann wird in einer ganz besonderen multimedialen Lesung den Besuch des schwarzen Schriftstellers im Leukerbad der 50er-Jahre nachverfolgen.
James Baldwin. Fremder im Dorf. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Pociao. Bilgerverlag, edition sacré 2011.
Rolf Hermann und Michael Stauffer. Wie ein Schaf in der Wüste. Als James Baldwin die Schweiz besuchte. Hörspiel. SWR 2011. (Für das Frühjahr 2012 ist eine Veröffentlichung im romm-Verlag in Visp in Planung).
Rolf Hermann
Rolf Hermann ist im Wallis geboren und aufgewachsen und lebt und arbeitet heute in Biel. Er schreibt neben Lyrik auch Prosa, Hörspiele und Theater- und Performancetexte. In diesem Frühjahr ist sein zweiter Lyrikband erschienen. Was bei seiner Lyrik mit einer Bierdose am Strand anfängt, kann in eine geistreiche Reflexion über das Schreiben münden. Hermann ist ein Lyriker mit erdiger Sprachkraft, wenn er aus den alltäglichen Bildern eine eigene und überraschende Wahrnehmung herauskristallisiert. Mit spielerischer Leichtigkeit stellt er scheinbar widersprüchliche Verbindungen her, lässt die Wahrnehmung ausscheren und geht den Schwingungen der Worte nach. Dabei entstehen Gedichte, die sich zwischen Ironie und Melancholie, zwischen Banalem und Schönem, zwischen Komischem und Elegischem bewegen. Er verknüpft Alltägliches mit Wunderbarem, Vergangenes mit Gegenwärtigem und scheinbar Unbedeutendes mit Bedeutungsvollem, so dass ein Kosmos entsteht, der jenseits jeglicher Koordinatensysteme liegt. Die Gedichte werden flankiert und illustriert von Collagen, die Rolf Hermann angefertigt hat. In ihnen überlagern sich Werke alter Meister mit Banalem, Ölfarben mit Digitalfotos. Die Angaben zu den Bildern suggerieren etablierte Kunst, die nicht in den grossen Museen und Galerien zu finden ist. Rolf Hermann wird die Collagen anlässlich der Lesung projizieren. Er ist auch Mitglied der Gebirgspoeten, eines Mundarttrios mit Matto Kämpf und Achim Parterre, das sich in ihren bern- und walliserdeutschen Texten mit den Mythen und Klischees der ländlichen Schweiz auseinandersetzt. Am Festival wird Rolf Hermann mit einer speziellen Hommage den Leukerbader Aufenthalt des amerikanischen Dichters James Baldwin vorstellen.
Kurze Chronik einer Bruchlandung. Gedichte. 2011. Verlag X-Time
Hommage an das Rückenschwimmen in der Nähe von Chicago und anderswo. Gedichte. 2007. Verlag X-Time
CDs
Die Gebirgspoeten: Letztbesteigung. Zusammen mit Matto Kämpf und Achim Parterre. Der gesunde Menschenversand 2010
Kein Zucker im Kaffee. Hommage an Grossmutter. Zusammen mit Michael Stauffer. Visp: romm 2010
Sabrina Janesch
In ihrem ersten Roman Katzenberge stellt sich die 1985 geborene Sabrina Janesch einer sprachlich anspruchsvollen Form des Erinnerns. Der Gedanke, dass Erinnerung Arbeit bedeuten könnte, verbunden mit Suchbewegungen in Raum und Zeit, scheint digital gestützten Gedächtnisformen fremd zu sein. Erinnern, in welcher Form auch immer, stellt eine Herausforderung dar. Sabrina Janesch zeigt uns, was es bedeuten kann, diese Herausforderung anzunehmen.
Die Ich-Erzählerin des Romans gerät aus Anlass des Todes ihres polnischen Grossvaters immer weiter in die Geschichte ihrer Herkunft. Die junge Journalistin Nele Leipert verlässt Berlin und fährt nach Schlesien und schliesslich ins ehemalige Galizien, ans Ende einer verschwundenen Welt. Mit dem allmählichen Vordringen wird mit jedem Kapitel das Thema des Romans deutlicher: Es geht um das Fremde. Der Grossvater war gezwungen, ins unbekannte Schlesien aufzubrechen, und nahm dabei seine Angst und sein Misstrauen mit. Neles romantische Vorstellungen werden gründlich entzaubert: «Malerisch hatte ich mir Ostpolen vorgestellt, unverfälscht, verzaubert. In Wirklichkeit war es nass, dreckig und fremd.» Man staunt, mit welcher Leichtigkeit es Sabrina Janesch gelingt, ihr komplexes poetisches Konzept umzusetzen. Für einen Erstlingsroman hat sie ungewöhnlich viel gewagt. Wie auf einer Wippe kippt die Erzählung unaufhörlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her und zieht die Lesenden in die Geschichte hinein. Es entsteht eine Welt, die uns das Fremde sinnlich begreifen lässt.
Katzenberge. Roman. Aufbau Verlag Berlin 2010
István Kemény
István Keméney wurde in Budapest geboren und wuchs nach dem blutig niedergeschlagenen Aufstand von 1956 und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs auf. Lange liessen sich die Grenzen nur in der Vorstellung überwinden, und so zeugen bereits die frühen Gedichte István Keménys von schrankenloser Gedankenfreiheit. Nicht selten erschafft er dadurch ganz eigene Welten: István Kemény ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen im heutigen Ungarn. Über Jahre hinweg war seine Wohnung Treffpunkt für junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller, so dass er auch einen entscheidenden Beitrag bei der Vermittlung ungarischer Gegenwartslyrik im Ausland leisten konnte. István Kemény ist Bewahrer des europäischen Geistes, nicht allein vor den Verheerungen der kommunistischen Diktatur, sondern inzwischen auch vor dem nicht minder zerstörerischen Diktat des freien Marktes. Mit seinem Werk erzeugt er ein neues Spannungsfeld zwischen Humor und Melancholie, nutzt die Möglichkeiten surrealistischer Verfremdung ebenso wie die lebendige Umgangssprache, schöpft aus dem reichen Reservoir von Mythologie und Historie, ist Prophet und Hüter der Erinnerung. Dabei erobert er für die Poesie längst verlorene Gattungen zurück, vom Epos bis hin zur Satire. Kemény findet für das Private wie für das Politische eindrückliche Bilder und setzt sie so kunstvoll ein, dass komplexe Zusammenhänge ohne Reduktion anschaulich werden. Es sind starke Visionen, die oft beiläufig entworfen werden, verblüffende Einsichten, deren absurder Witz keineswegs über die offenbarten Abgründe hinwegtäuscht.
István Kemény – Franz Josef Czernin. Dichterpaare. Lyrikband zweisprachig mit CD-Beilage. Kortina Verlag 2009
Nützliche Ruinen. Gedichte zweisprachig. gutleut Verlag 2007
A. L. Kennedy
Alison Louise Kennedy wurde 1965 im schottischen Dundee geboren und gehört heute zu den meistbeachteten Autorinnen Grossbritanniens. Sie hat mit ihren Short-Story-Sammlungen und Romanen mehrere Preise gewonnen, darunter den Somerset Maugham Award. Kennedy lebt als Autorin, Stand-up Comedian, Filmemacherin und Dramatikerin in Glasgow.
Ihr Erzählband Was wird versammelt zwölf Erzählungen, die alle, fast wie klassische Novellen, auf einen dramatischen Höhepunkt zulaufen, obwohl die Themen oft ganz alltäglich sind. Aber alle Protagonisten, Männer und Frauen, Singles und Paare, haben einen Riss in ihrem Leben, leiden an gebrochenem Herzen, suchen einen neuen Weg. Kennedys Meisterschaft besteht darin, dass sie die grossen Emotionen ihrer Figuren ohne jede falsche Sentimentalität beschreibt und ihnen gerade so Tiefe und Wahrheit gibt – ein Buch über die Gefühlsverwirrungen unserer Zeit.
In einem Interview mit Die Zeit beschreibt A. L. Kennedy in ihrer treffenden und gesellschaftskritischen Art, warum ihr das Schreiben übers Unglücklichsein wichtig ist: «Es gibt keine kulturelle Möglichkeit für die Menschen, das Gefühl des Versagens auszudrücken. Diese Hollywood-Ideologie vom Gutsein, das belohnt wird, und vom Bösen, das seine Strafe findet, sie haut nicht hin, gibt aber den Leuten das Gefühl, versagt zu haben. Wenn sie dann in den Texten andere finden, denen es auch so geht, fühlen sie sich nicht mehr so allein.»
Was wird. Erzählungen. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach 2009
Day. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Paradies. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach 2005
A. L. Kennedy musste ihre Reise nach Leukerbad leider kurzfristig absagen.
Katja Lange-Müller
Katja Lange-Müller wurde 1951 in Berlin-Lichtenberg geboren. Nachdem sie mit 16 Jahren wegen «unsozialistischen Verhaltens» von der Schule verwiesen worden war, machte sie eine Lehre als Schriftsetzerin und arbeitete anschliessend als Bildredakteurin bei der Berliner Zeitung. Nach einer einjährigen Tätigkeit als Requisiteurin beim DDR-Fernsehen war sie mehrere Jahre Hilfsschwester auf geschlossenen psychiatrischen Stationen. Ab 1979 studierte sie am Literaturinstitut in Leipzig. 1982 folgten ein einjähriger Studienaufenthalt in der Mongolei und Arbeit in einer Teppichfabrik in Ulan-Bator. Nach der Rückkehr in die DDR war sie 1983 Lektorin im Altberliner Verlag. 1984 reiste sie nach West-Berlin aus. Sie lebt bis heute in Berlin.
Katja Lange-Müller ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Akademie der Künste und Gründungsmitglied der Lübecker «Gruppe 05». Ihre Arbeit wurde mit mehrfach ausgezeichnet.
Was Katja Lange-Müllers Werk auszeichnet ist nicht nur ihre Begabung auf komische und groteske Art den Finger geradezu in die Wunden ihrer Protagonisten zu bohren ohne diese dabei der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern auch ihr Engagement. Sie zeigt immer mehr auf als auf den ersten Blick ersichtlich ist und geht den Problemen, vor allem denen Deutschlands vor, während und nach der Wende mit Genauigkeit doch ohne erhobenen Zeigefinder auf den Grund.
Sie selbst bezieht sich in einem Interview mit der FAZ auf den Satz von Marx, der an Engels schrieb: «Entschuldige bitte, dass mein Brief so lang geworden ist, ich hatte keine Zeit.» und sagt: «Streichen ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Arbeit. (...) Sobald es allzu episch wird, verliere ich die Geduld. Es gibt, meine ich, so viel gute Literatur, dass jeder Schriftsteller versuchen sollte, das, was er zu sagen hat, so konzentriert wie möglich zu sagen. Weil der Leser ja nicht alle Zeit der Welt hat. Der will ja auch noch was anderes lesen als etwa Lange-Müller.»
Böse Schafe. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 2007
Der nicaraguanische Hund. Berliner Handpresse. 2003
Die Enten, die Frauen und die Wahrheit. Erzählungen und Miniaturen. Kiepenheuer & Witsch. 2003
Gilles Leroy
Gilles Leroy wurde 1958 bei Paris geboren und studierte Geisteswissenschaften mit Schwerpunkt amerikanische und japanische Literatur. Seine oft autobiografisch geprägten Romane erscheinen seit 1990 beim Verlag Mercure de France. 2007 wurde er für sein zwölftes Buch Alabama Song mit dem renommierten französischen Literaturpreis Prix Goncourt ausgezeichnet.
In Alabama Song zeichnet Gilles Leroy das Leben von Zelda Fitzgerald, der Frau von F. Scott Fitzgerald, nach. Und auch in seinem aktuellen Roman Zola Jackson verarbeitet Gilles Leroy ein amerikanisches Thema: Seine Protagonistin Zola Jackson, eine pensionierte Lehrerin, die nach dem Verlust ihres Mannes und ihres Sohnes zuviel trinkt, sitzt im ersten Stock ihres Hauses und beobachtet die Verwüstungen, die der Wirbelsturm Katrina um sie herum anrichtet. Sie weigert sich, das Haus ohne ihre Hündin Lady zu verlassen, obwohl es in einem der tiefer gelegenen Viertel von New Orleans liegt und die Pegel stetig steigen. Je höher das Wasser steigt, umso tiefer taucht der Leser durch die Selbstgespräche und Erinnerungen in das Leben von Zola Jackson ein und beginnt zu begreifen, warum sie sich weigert, in eines der Rettungsboote zu steigen. Der beengte Schauplatz lässt die Geschichte zu einer Art Kammerspiel werden. Und während man beobachtet, wie Zola sich ein neues Bier aufmacht, während draussen die Leichen vorbeitreiben, wird die brutale Absurdität der Katastrophe von New Orleans offenbar, wo statt der ersehnten staatlichen Rettungsmannschaften die internationalen Medientruppen die Stadt einnehmen.
Zola Jackson. Roman. Aus dem Französischen von
Alabama Song. Roman. Aus dem Französischen von
Gilles Leroy musste seine Reise nach Leukerbad leider kurzfristig absagen.
Nina Maria Marewski
Nina Maria Marewski wurde 1966 in Frankfurt am Main geboren. Mit 16 Jahren brach sie nach der Geburt ihres ersten Kindes die Schule ab und bestritt anfänglich mit Gelegenheitsjobs ihr Leben. Es folgten zwei Jahrzehnte in einer Unternehmensberatung und eine Vertriebsgründung. Heute lebt und schreibt Nina Maria Marewski in der Nähe von Zürich. In Leukerbad wird sie ihren ersten Roman Die Moldau im Schrank vorstellen.
In jedem Leben gibt es Entscheidungen, die den weiteren Weg vorzeichnen, einen anderen Weg ausschliessen. Die Frage, wie das Leben wohl verlaufen wäre, hätte man sich in einem solchen Moment anders entschieden, stellt sich jeder irgendwann einmal. Helena Murnau, die Hauptfigur in Nina Maria Marewskis Roman, bekommt Antworten auf diese Fragen: Sie entdeckt einen Übergang in eines ihrer anderen möglichen Leben. Während sie auf der einen Seite mit ihrer grossen Liebe Christian verheiratet und Mutter von zwei Kindern ist, lernt sie auf der anderen Seite eine Helena kennen, die sich von Christian getrennt hat und als Malerin frei und ungebunden lebt. Parallel zu Helenas Geschichte erzählt Nina Maria Marewski die Geschichte von Mitja Kruschenko, der mit sieben Jahren seine Mutter sterben lässt. Später einmal träumt er, dass sie an seinem Bett sitzt und ihm erklärt, dass sie stolz auf ihn sei und ihm den Auftrag gibt, weitere Engel in den Himmel zu schicken, damit der Teufel arbeitslos werde. Mit Die Moldau im Schrank ist es Nina Maria Marewski geglückt, auf hohem Niveau Thriller-Elemente mit Anleihen aus dem Fantasy-Genre zu verbinden und dabei ihren Figuren jederzeit ganz nah zu sein, ob sie nun lieben, leiden oder morden.
Die Moldau im Schrank. Roman. Bilgerverlag 2011
Olga Martynova
Olga Borissowna Martynova wurde 1962 in Sibirien geboren und wuchs in Leningrad (heute St. Petersburg) auf. Sie studierte russische Sprache und Literatur und zog 1991 nach Deutschland. Heute lebt sie in Frankfurt am Main. Olga Martynova schreibt Lyrik, Essays und Prosa auf Russisch und Deutsch und ist als Übersetzerin und Rezensentin tätig. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet.
Als Lyrikerin ist Olga Martynova bereits seit Längerem eine feste Grösse mit einer eigenständigen Stimme. Ihre Gedichte schreibt sie auf Russisch und überträgt sie – teils zusammen mit anderen Lyrikern – ins Deutsche, wodurch ein einmaliger Dialog zwischen den Sprachen entsteht. Im letzten Jahr erschien ihr erster Roman Sogar Papageien überleben uns. Sie erzählt darin die Geschichte von Marina, die an einem Kongress in Deutschland den Mann wieder trifft, mit dem sie 20 Jahre zuvor in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hiess, liiert war. Und plötzlich ist die Vergangenheit gar nicht vergangen... Olga Martynova setzt den Roman aus Prosaabschnitten, Zitaten, Gedichtfetzen, Dialogen, Aphorismen und Anekdotischem zusammen. «Mit anderen Worten, dieser Text ist ein Blog zwischen zwei Deckeln. Alles führt per mentalem Klick weiter», wie es Die Zeit treffend beschreibt. Wie bei einem Gedichtband kann man an einer beliebigen Stelle des Romans beginnen und sich mitnehmen lassen auf die weiten Felder der Assoziation. Am Literaturfestival Leukerbad liest Olga Martynova sowohl Lyrik wie auch aus ihrem neuen Roman.
Sogar Papageien überleben uns. Roman. Droschl 2010
In der Zugluft Europas. Gedichte. Verlag Das Wunderhorn 2009 (Gedichte aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova, Gregor Laschen, Ernest Wichner, Sabine Küchler
Rom liegt irgendwo in Russland. Gedichte. Zusammen mit
Francesco Micieli
Francesco Micieli schreibt erzählende Prosa, Theaterstücke und Libretti. In seinen Prosawerken verarbeitet er in einer knappen, lyrischen Sprache die Geschichte der Migration von Angehörigen der albanischen Minderheit aus Italien und von Randständigen unserer Gesellschaft. Francesco Micielis Prosa changiert zwischen Lyrik, Erzählung und Monolog. Seine Werke sind in kurzen, präzisen Sätzen verfasst und teilweise von solch poetischer Klarheit, dass sich zwischen den Zeilen Raum für das Unbenennbare öffnet. Die Sprache erhält so eine Intensität, die mit dem so genannten «Ausschreiben » des Textes kaum zu erreichen wäre. Micielis Schreiben ist Ausdruck einer Skepsis gegenüber der Sprache und ihren Strukturen, zumal gegenüber der Eins-zu-Eins-Zuordnung von Wörtern zu Sachverhalten der Realität. Sein Vater, der seit über 40 Jahren in der Schweiz lebt und seit über 40 Jahren mit seiner Familie nach Italien zurückkehren möchte, spricht gebrochen Italienisch und gebrochen Deutsch: «Gebrochen. Seine Sprache ist kein richtiges Werkzeug und keine Waffe. Ein Existenzminimum... Vaters Sprache war die Arbeit.»
Francesco Micieli wurde in Kalabrien geboren und wuchs als Angehöriger der albanischen Minderheit in Italien mit verschiedenen Sprachen und Kulturen auf. Seine Eltern arbeiteten und lebten bereits in der Schweiz, als sie ihn, neunjährig, aus der Obhut seines Grossvaters nachholten. Diese Geschichte hat Francesco Micieli in seinen ersten Büchern Trilogie einer Emigration in kurzer, poetischer Form nacherzählt. Die Bände wurden nun ins Französische übersetzt und werden am Festival erstmals vorgestellt.
Liebe im Klimawandel. Erzählung. Zytglogge Verlag 2010
Fantasmi. Auf-Zeichnungen & Postkarten an & für Urs Dickerhof. edition clandestin 2008
Mein Vater geht jeden Tag vier Mal die Treppen hinauf und hinunter. Texte zu Sprache und Heimat. Verlag die brotsuppe 2007
Valžhyna Mort
Valžhyna Mort wurde 1981 in Minsk geboren; seit 2005 lebt die weissrussische Lyrikerin in Washington D.C. Sie studierte Anglistik und lehrt seit 2009 Lyrik an der University of Maryland. Daneben übersetzt sie englische und polnische Literatur.
Wie damals üblich, wuchs Valžhyna Mort mit Russisch auf. Erst unter der Perestroika kam es zu einer Wiederbelebung der belarussischen Schriftsprache, die sie als Jugendliche erlernte. Ursprünglich wollte sie Opernsängerin werden und vielleicht kommt ihr deswegen die Weichheit und Melodiösität dieser Sprache entgegen, der sie gleich zwei Gedichte in dem auf Deutsch erschienenen Auswahlband Tränenfabrik widmet. Folgerichtig überschreibt sie das Nachwort auch mit «Eine Sprache, die der Musik hinterherläuft». In ihren Gedichten findet sich aber auch Alltägliches und bestechend Menschliches in Titeln wie «Männer», «Alkohol», «Ehe» oder «Grossmama». Ergänzt werden die Gedichte um Prosastücke und auch die neue Heimat im englischen Sprachraum findet ihren Niederschlag. Zielsicher trifft Valžhyna Mort mitten ins Herz, aber eine feine Ironie bewahrt sie vor Sentimentalitäten wie im Gedicht «Von Floridas Stränden»: «von den lippen leckst du den salzigen honig / die luft bleibt kleben an deiner feuchten haut / und zappelt dort wie eine fliege im netz. / im wasser – die kinder – nachfahren der affen / pinkeln frech auf Gottes Spiegel.» Bestechend an Tränenfabrik ist «der oft abrupte Wechsel zwischen hypnotisierender Zärtlichkeit und alarmierender Lautstärke. Hungrig greift Mort in die Wirklichkeit, breitet mit grossem Gespür für die Ambivalenzen des sexuellen Begehrens die Fragmente einer Sprache der Liebe aus», wie die FAZ meinte.
Tränenfabrik. Gedichte. Aus dem Weissrussischen von Katharina Narbutovic. Suhrkamp 2009
Melinda Nadj Abonji
Melinda Nadj Abonji wurde in der Vojvodina, dem teilweise ungarisch sprechenden Teil Serbiens, geboren und kam mit vier Jahren in die Schweiz. In ihrem preisgekrönten zweiten Roman Tauben fliegen auf erzählt sie die Geschichte einer Familie, die wohl einen ähnlichen Weg gegangen ist wie die ihre. Vordergründig hat sich die Familie Kocsis im Roman perfekt integriert, doch die Kluft zwischen dem äusserlichen Erfolg und der inneren Befindlichkeit wird in der zweiten Generation immer grösser. Vor allem die Ich-Erzählerin Ildiko spürt, wie sie sich den geliebten Verwandten, aber auch den eigenen Eltern entfremdet. Sie rebelliert gegen das «Immer-nett-sein-Müssen», das die Mutter ihr und der lebenslustigen Schwester Nomi einbläut, mit dem refrainartig wiederkehrenden Satz: «Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten.» Die Immigration ist auch für die Schweiz eines der grossen gesellschaftlichen Themen dieser Jahrzehnte; nicht wegen populistischer Zuckungen à la Minarett-Verbot, sondern weil die neuen Mitbürger das Land verändern – und das Land sich schwertut, diese Veränderungen mitzuvollziehen. Denn Integration ist keine einseitige Sache; Ängste müssen abgebaut werden und es ist ein grundsätzliches Verständnis für die Belastung notwendig, die ein Wechsel aus der Heimat in die Fremde und die Verwandlung dieser Fremde in eine neue Heimat für jeden Immigranten bedeutet.
Der Roman ist aussergewöhnlich, da auf intime Bilder scharfsichtige kritische Passagen folgen. Melinda Nadj Abonji ist ein starker Beweis dafür, dass es längst auch die Immigrantinnen und Immigranten sind, die der deutschsprachigen Literatur neue Themen, Schauplätze, Klänge abgewinnen.
Tauben fliegen auf. Roman. Jung & Jung Verlag 2010
Im Schaufenster im Frühling. Roman. Amman Verlag 2004.
Samuel Pepys
Samuel Pepys [pi:ps] reist nicht nach Leukerbad, denn Samuel Pepys lebte von 1633 bis 1703 in England. Und eigentlich ist er auch keine wirkliche Neuentdeckung, denn schon Sir Walter Scott und Samuel Taylor Coleridge bewunderten seine Tagebücher, aber erst seit August 2010 liegen Die Tagebücher 1660 – 1669 vollständig auf Deutsch vor. Sie liefern einen Augenzeugenbericht der Ereignisse einer der aufregendsten Epochen der englischen Geschichte. Auf nie zuvor dagewesene Weise verknüpft der als Sohn eines Schneiders in London geborene Pepys die grosse Weltgeschichte mit seiner nicht minder ereignisreichen privaten Geschichte, berichtet von seinem beruflichen Aufstieg im britischen Flottenamt, von den Wonnen und Qualen, die der wachsende Wohlstand mit sich bringt, von seiner grossen Leidenschaft für Musik und das Theater, für die neuen Wissenschaften, für gutes Essen und schöne Bücher und nicht zuletzt für die Frauen.
Die Tagebücher wurden erst 100 Jahre nach Pepys Tod entdeckt, transkribiert – Pepys benutzte eine Kurzschrift – und in Auszügen veröffentlicht. Nach zahlreichen erweiterten Neuausgaben erschien Ende des 19. Jahrhunderts eine erste Gesamtausgabe, die, dem Zeitgeist angemessen, immer noch um die erotischen Passagen gekürzt war.
Für Samuel Pepys reisen der Verleger Gerd Haffmans und die Kultur- und Reisemoderatorin Monika Schärer ans Literaturfestival Leukerbad, um ihm ihre Stimmen zu leihen.
Sämtliche Tagebücher 1660 – 1669. Aus dem Englischen von Georg Deggerich, Michael Haupt, Arnd Kösling, Hans-Christian Oeser, Martin Richter und Marcus Weigelt. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins 2010
Jürgen Ritte / Oulipo
Jürgen Ritte ist Mitbegründer der deutschen Marcel Proust Gesellschaft (MPG), seit 1988 im akademischen Beirat; seit 1999 ist er gewähltes Mitglied im Vorstand der französischen Übersetzervereinigung Atlas, seit 1999 Leiter des Postgraduate-Studienganges DESS de journalisme franco-allemand an der Sorbonne Nouvelle und seit 2001 / 2002 Leiter der französisch-deutschen Studien an der Sorbonne Nouvelle. Er war Studienleiter des Institut d’Allemand d’Asnières und ist heute Professor im Département LEA, Université Sorbonne Nouvelle-Paris III. Er arbeitet seit 1982 als Kritiker für Printmedien in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz.
Am Festival wird Jürgen Ritte den Autorenkreis Oulipo vorstellen. Oulipo ist ein Autorenkreis hauptsächlich französischer, italienischer (Italo Calvino), US-amerikanischer (Harry Mathews) und siebenbürgisch-sächsischer (Oskar Pastior) Schriftsteller. Das Akronym Oulipo kommt von L’Ouvroir de Littérature Potentielle («Werkstatt für potenzielle Literatur»). Das zugehörige Adjektiv lautet oulipotisch. Oulipo wurde 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet. Seine Mitglieder rekrutierten sich anfangs vor allem aus dem Collège de Pataphysique, taten ihre ersten künstlerischen Schritte teils aber auch im Surrealismus. Das Ziel von Oulipo ist die «Spracherweiterung durch formale Zwänge». Georges Perec führte dies beispielhaft vor, indem er einen leitprogrammatischen Roman (La Disparition, 1969) schrieb, in dem der Buchstabe «e» nicht vorkommt. Oulipotische Werke müssen sich einer contrainte, einer Beschränkung unterwerfen, die das verwendete Sprachmaterial freiwillig begrenzt.
Endspiele. Geschichte und Erinnerung. Matthes&Seitz 2009
Bis auf die Knochen. Das Kochbuch, das jeder braucht. Herausgegeben von Jürgen Ritte. Arche Verlag 2009
Oksana Sabuschko
Vieles von dem, was heutzutage die Bestsellerlisten anführt, zeichnet sich nicht unbedingt durch seine sprachliche oder inhaltliche Qualität aus. In der Ukraine jedoch, jenem grossen osteuropäischen Land, das immer noch schwer an seinem sowjetischen Erbe trägt, belegt ein Buch seit seinem Erscheinen die Nummer eins der Verkaufsränge, das nicht nur die Ausnahme von dieser Regel ist, sondern sogar deren Gegenteil: Oksana Sabuschkos neuer Roman Museum der vergessenen Geheimnisse ist sprachlich unglaublich reich und genau und darüber hinaus politisch anspruchsvoll. In der Ukraine gilt die Autorin als wichtigste weibliche Stimme der Gegenwartsliteratur. Sie wird dabei wahlweise als «Enfant terrible» und «zweiter Dostojewski» gefeiert und berührt offenbar einen wunden Punkt bei ihren Landsleuten in einem Land, das bis heute zerrissen, traumatisiert und in Lügengespinsten gefangen ist.
Was geschieht mit unseren Erinnerungen, den bewussten und den unbewussten, wenn wir einmal nicht mehr sind? Der unendliche Schatz menschlicher Wahrnehmung – löst er sich einfach auf im Nichts? Anhand der Lebensgeschichten dreier Frauen zeigt Sabuschko die Widersprüche einer Gesellschaft, die auf Lügen baut. Die Geheimnisse der Protagonistinnen des Romans, wie diese verdrängt werden und als Tabuzonen von Generation zu Generation weitergegeben werden, sind die Leitmotive dieses grossartigen Werks. Zugleich nehmen wir teil an einer berührenden Liebes- und Beziehungsgeschichte, die keinen kalt lässt. Ein literarisches Erdbeben aus der Mitte Europas, voller Musikalität und Menschlichkeit.
Museum der vergessenen Geheimnisse. Roman.
Feldstudien über ukrainischen Sex. Roman. Droschl Verlag 2006
Michail Schischkin
Michail Schischkin wurde 1961 in Moskau geboren. Nach einem Studienabschluss in Germanistik und Anglistik arbeitete er als Journalist für eine Jugendzeitschrift und unterrichtete Deutsch und Englisch. Michail Schischkin lebt seit 1995 in Zürich, wo er als Russischlehrer und Dolmetscher für das Migrationsamt arbeitet.
Der Protagonist, der in Venushaar für das Zürcher Migrationsamt die Befragungen von Asylsuchenden übersetzt – «meines Zeichens Dolmetsch in der Flüchtlingskanzlei des Ministeriums für Paradiesverteidigung» –, mäandert ausgehend von der Realität seiner oft erschütternden Befragungen durch Raum und Zeit und durch die Literaturund Kulturgeschichte dieses Europas, in dem die Schweiz vielen als Paradies gilt. So entsteht ein Panorama der russischen Geschichte und gleichzeitig ein enorm aktuelles Bild der europäischen Gegebenheiten. Michail Schischkin ist, ebenso wie Marie NDiaye, Spycher-Preisträger 2011. In der Jurybegründung heisst es: «Mit dem Protagonisten seines Romans Venushaar hat Michail Schischkin eine erschütternde Ikone unserer Gegenwart geschaffen, die in ihrer literarischen Verve zugleich an die Antike gemahnt. Unaufhaltsam zieht dieser Erzähler den Leser in einen atemberaubenden Strudel von Schicksalen und Geschichten hinein, in einem Europa, das Schischkin solcherart am Versagen gegenüber dem Fremden und am Verblassen seiner Utopien misst.»
Als einziger Schriftsteller hat Schischkin die drei grössten Literaturpreise Russlands erhalten. Seine Bücher wurden in 14 Sprachen übersetzt. Leider liegt bisher von seinen Romanen nur Venushaar auf Deutsch vor.
Venushaar. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. DVA 2011
Die russische Schweiz. Ein literarischhistorischer Reiseführer. Aus dem Russischen von Franziska Stöcklin. Limmatverlag 2003 (leider vergriffen)
Montreux — Missolunghi — Astapowo. Auf den Spuren von Byron und Tolstoj: Eine literarische Wanderung vom Genfersee ins Berner Oberland. Aus dem Russischen von Franziska Stöcklin. Limmatverlag 2002
Clemens J. Setz
Es gibt kaum einen Superlativ, der im Zusammenhang mit Clemens J. Setz nicht schon in die literarische Arena geworfen worden wäre. Nach den beiden von der Kritik bejubelten und mit Preisen ausgezeichneten Romanen Söhne und Planeten und Die Frequenzen erschien in diesem Jahr ein Band mit Erzählungen. Es sind Geschichten gespickt mit grotesken Ideen und subtilem Horror, voll mit gewalttätigen Momenten und zärtlichen Gesten. Diese Erzählungen kommen scheinbar harmlos daher, im Gewand der Alltäglichkeit, die jeder zu kennen meint, und entwickeln dann eine Brutalität und eine Grausamkeit, die einem jedes Mal von Neuem erschrecken. Doch nicht nur die thematische Breite und inhaltliche Wucht dieses jungen Schriftstellers sind faszinierend, sondern vor allem auch die Fantasie seines Ausdrucks. Aber selbst bei den skurrilsten Einfällen, von denen diese Erzählungen überquellen, offenbart sich eine unaufgeregte Normalität, und noch die wildesten Sex- und Gewaltexzesse, wie sie seit Langem kein Autor so eindringlich, so direkt und überraschend beschrieben hat, erscheinen zwar ausserordentlich, aber jederzeit möglich. Mit Leichtigkeit skizziert er die ungewöhnlichsten Bilder und dies, ohne auch nur im Geringsten bemüht zu wirken.
Nach dem überschwänglichen Lob für seine beiden Romane erweist sich jetzt, dass Clemens J. Setz auch in der kleinen Form der Erzählung ein wirklich grosser Autor ist. Bei ihm findet man jenen «Mehrwert», der zur wirklichen Kunst gehört, jenen nicht fassbaren Zauber, der über das Tatsächliche hinausweist.
Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Erzählungen. Suhrkamp 2011
Die Frequenzen. Roman. Residenz 2009
Söhne und Planeten. Roman. Residenz 2007
Sjón
Mit vollem Namen Sigurjón Birgir Sigurðsson, wurde 1962 in Reykjavík geboren. Bekannt wurde er durch seine Liedtexte für Björk, insbesondere für Lars von Triers Film Dancer in the Dark; er trat ausserdem auch als Musiker in Erscheinung. Sjón lebt nach Stationen in den Niederlanden und in London wieder in Reykjavík.
Zur Lyrik fand Sjón beeinflusst durch die Liedtexte David Bowies und die Isländersaga schon früh: Bereits mit 15 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Nach weiteren Gedichtbänden folgte dann 1987 sein erster Roman.
Was die NZZ über seinen Roman Schattenfuchs schrieb: «Meisterhaft versteht er es, seine Charaktere mit knappen Worten zu beleben, seine Naturbilder sind von hypnotischer Intensität», gilt auch für seinen zweiten auf Deutsch übersetzten Roman Das Gleissen der Nacht. Er spielt in Island um das Jahr 1636, wo Jónas, der Gelehrte, auf der Suche ist nach immer neuem Wissen und nach Ungeheuern, die es zu besiegen gilt. Doch sein Wissen bringt ihn in eine Aussenseiterrolle, er wird zunehmend angefeindet. Sjón verfolgt teils einen linearen Erzählstrang, verfällt dann wieder in lyrische Prosa – eine sprachlich bemerkenswerte Mischung. Er selbst sagt über seine Art zu Schreiben: «Theoretisch kann ich zwar ein reines Libretto schreiben oder einen reinen Popsong oder einen reinen historischen Roman. Aber meistens bringe ich diese Dinge zusammen. Ich bin wie ein Dieb, der nachts in Villen einsteigt und schöne Gegenstände wie Juwelen stiehlt, um sie in meinem Versteck, meinem Keller, zusammenzuführen.» In Leukerbad wird Sjón sowohl seinen neuen Roman als auch seine Lyrik vorstellen.
Das Gleissen der Nacht. Roman. Aus dem Isländischen von Betty Wahl. S. Fischer Verlag 2011
Schattenfuchs. Roman. Aus dem Isländischen von Betty Wahl. S. Fischer Verlag 2007
gesang des steinesammlers. Gedichte isländisch-deutsch. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Buchkunst Kleinheinrich 2007
Peter Stamm
Der 1963 geborene Peter Stamm ist einer der erfolgreichsten jüngeren Autoren der Schweizer Gegenwartsliteratur. Nach einer KV-Lehre begann er ein Studium der Anglistik und Psychologie, das er allerdings nach wenigen Semestern abbrach. Seit 1990 arbeitet er als Schriftsteller und freier Journalist. Neben seiner Arbeit als Journalist begann er, Theaterstücke und Hörspiele für Radio DRS, Radio Bremen, den WDR und den Südwest Rundfunk zu schreiben. Der literarische Durchbruch gelang ihm 1998 mit seinem ersten Roman Agnes.
In seinem aktuellen Erzählband Seerücken komponiert Peter Stamm zehn Geschichten; jede erzählt unabhängig von alltäglichen Niederlagen, vom kleinen Scheitern, von unerfüllten Lebensentwürfen. Peter Stamm ist ein genauer Beobachter und seinen präzisen und unspektakulären Schilderungen gelingt es, die Lesenden zur Identifikation mit seinen Figuren zu verführen oder Erinnerungen aus ihrem eigenen Leben wachzurufen. Von der Presse wurde Seerücken gefeiert. So schreibt beispielsweise Pia Reinacher in der Weltwoche: «Eigensinnig, mitreissend, brillant: Mit seinen neuen Erzählungen Seerücken beweist Peter Stamm erneut seine herausragende Begabung. (...) Peter Stamms neue Erzählungen sind furiose Variationen des alten Themas der Selbstfindung – und sie weisen ihn einmal mehr als einen der begabtesten Schweizer Autoren seiner Generation aus.»
Seerücken. Erzählungen. S. Fischer Verlag 2011
Sieben Jahre. Roman. S. Fischer Verlag 2009
Heidi. Mit Bildern von Hannes Binder. Nach Johanna Spyri.
Wir fliegen. Erzählungen. S. Fischer Verlag 2008
Christian Uetz
Sieben Jahre nach dem Lyrikband Das Sternbild versingt (2004) erscheint jetzt endlich ein neues Buch von Christian Uetz; es ist sein erster Roman. Der philosophische Poet mit seinen sprachgewaltigen, legendären Performance-Auftritten erzählt in Nur Du, und nur Ich die Liebesgeschichte zweier Menschen, die sich treffen und nicht mehr voneinander lassen können. Der Ich-Erzähler geht auf die Frau zu, indem er in den sprachlichen Untergrund des einsam Liebenden taucht, und dort beginnt er Schritt für Schritt mit dem Balztanz der Liebe und schreitet dabei aus in die Welt. Er zeigt ein Sehen, das aus lauter Liebe nicht blind macht; es ist eine Annäherung an die grosse Geliebte, um sich gemeinsam mit ihr endlich hinzugeben in der einen grossen letzten Nacht der Liebe.
Es ist ein Roman geworden, der gleichsam in jedem Satz neu entsteht; Wort für Wort hat Christian Uetz mit seiner bekannten wortschöpferischen Sprachgewalt diesen Roman geschrieben, eine sprachliche Ode an die Liebe und eine liebende Hingabe an die Sprache, ein Roman über das Verlangen nach Liebe, aber auch über die Unfähigkeit, Nähe zuzulassen, über Lust, Hingabe und Zerstörung. Sprachgewaltig, trunken vor Lust an der Sprache, selbstverloren im Sehnen nach ihr geht Christian Uetz in sieben Schritten der Liebe nach. Vier Jahre hat er vergeblich einen Verlag gesucht. Es ist deshalb dem jungen Secession Verlag hoch anzurechnen, dass er den Mut aufgebracht hat, dieses sprachliche Feuerwerk herauszugeben.
Nur Du, und nur Ich: Roman in sieben Schritten. Secession Verlag 2011
Das Sternbild versingt. Gedichte. Suhrkamp Verlag 2004
Zoom Nicht. Texte. Droschl Verlag 1999
Martin Walker
Martin Walker wurde 1947 in Schottland geboren und studierte Geschichte in Oxford sowie Internationale Beziehungen und Wirtschaft in Harvard. Heute lebt der Historiker, Journalist und Schriftsteller in Washington und im Périgord. Er war 25 Jahre lang Journalist bei der britischen Tageszeitung The Guardian und ist heute Vorsitzender des Global Business Policy Council, eines privaten Think Tanks für Topmanager mit Sitz in Washington. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, unter anderem über den Kalten Krieg, über Gorbatschow und die Perestroika, über Präsident
Martin Walkers Kriminalromane mit Bruno, Chef de police, spielen vor der beschaulichen Kulisse des Périgord mit seinen von Flüssen durchzogenen Wäldern, aber natürlich spürt man die journalistische Arbeitsweise und das fundierte historische und wirtschaftliche Wissen des Autors – die Fälle, mit denen Bruno sich konfrontiert sieht, sind alles andere als hinterwäldlerisch. Der Kommissar bekommt es mit international agierenden Grosskonzernen und rassistischen Machenschaften zu tun und muss sich mit der unrühmlichen kolonialen Vergangenheit Frankreichs in Indochina auseinander setzen. Und all das tut er mit Nonchalance, Lebenslust und einem untrüglichen Sinn für gutes Essen und guten Wein. So zieht Martin Walker die Lesenden nicht nur in die spannende Handlung, sondern auch in die sehr entspannende Atmosphäre einer französischen Kleinstadt hinein – Urlaubsgefühle inklusive. Martin Walkers Bruno-Romane erscheinen gleichzeitig in zehn Sprachen.
Schwarze Diamanten. Der dritte Fall für Bruno, Chef de police. Roman. Aus dem Englischen von Michael Windgassen.
Grand cru. Der zweite Fall für Bruno, Chef de police. Roman.
Bruno, Chef de police. Roman. Aus dem Englischen von
Anna Weidenholzer
Anna Weidenholzer, geboren 1984, hat Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Wroclaw / Polen studiert. Sie lebt als Autorin, Journalistin und Texterin in Wien. Die junge Autorin aus Linz hat mit ihrem ersten Erzählband Der Platz des Hundes bereits viel Aufmerksamkeit bekommen, und das zu Recht. Anna Weidenholzers lose miteinander verbundene Erzählungen ziehen die Lesenden in einen ganz eigenen Bann. Es gelingen ihr atmosphärisch dichte Beschreibungen in einer wunderschönen, sorgfältig gewählten Sprache. Der Ton ist melancholisch, aber nicht schwermütig. Sie beschreibt die Möglichkeiten «einfacher», aus allen sozialen Schichten stammender Menschen, die oft an Einsamkeit, Ziellosigkeit und der Unfähigkeit, Entscheidungen für ihr Leben zu treffen, leiden.
Behutsam lotet die Autorin die Einsamkeit ihrer Figuren aus, das also, was alle diese Menschen verbindet, wobei sich ein eigentümlicher Sog entwickelt, der uns an unsere eigenen Ränder schwemmt. Voyeuristisches findet man in Anna Weidenholzers Erzählungen nicht; atmosphärisch dichte Daseinsstimmungen werden verzeichnet, ohne genauen Zeitabläufen zu folgen. Sie schreibt sich hinein in die verborgenen, dunkel brodelnden Abstellräume, in denen menschliche Eigenheiten keimen. Der Trott des Alltags hält die Protagonisten fest im Griff, Träume bleiben Träume. Umwege gehen sie alle und meinen doch, sie gingen keine.
Der Platz des Hundes. Erzählungen. Mitter Verlag 2010
Ernest Wichner
Ernest Wichner, geboren in Rumänien, lebt seit 1975 in Deutschland. Er ist Autor, Literaturkritiker, Übersetzer aus dem Rumänischen, unter anderem von Mircea Cartarescu, Norman Manea, Stefan und Daniel Banulescu, Nora Iuga und zuletzt dem erzählerischen Werk von M. Blecher in drei Bänden. Daneben ist er Herausgeber von zahlreichen Ausstellungsbüchern zu literarischen Projekten aus Rumänien. 1988 bis 2003 war er stellvertretender Leiter des Literaturhauses Berlin und seit 2003 ist er dessen Leiter.
Seine enge Freundschaft zu Herta Müller und zum verstorbenen Oskar Pastior hat ihn bewogen, mehrmals die Akten der Securitate zu durchforsten um die Vorwürfe gegen die angebliche Spitzeltätigkeit von Oskar Pastior zu klären. Den Anschuldigungen gegen Oskar Pastior, die indirekt auch gegen Herta Müller gerichtet waren, setzt Ernest Wichner die so dringend benötigte Sachlichkeit entgegen, die auf Fakten beruht.
Wenigen ist Ernest Wichner auch als Lyriker bekannt. Im letzten Herbst ist nun endlich wieder ein Band von ihm erschienen. In diesem neuen Werk, ich bin ganz aufgesperrt, sind vorwiegend Liebesgedichte versammelt, gerichtet an eine zwar nicht ferne, aber gleichwohl innig herbeigesehnte Frau. Sie handeln von Leidenschaft, von einer Liebe, deren Erfüllung ausserhalb des Möglichen liegt. Dieses Urthema der Lyrik gestaltet Ernest Wichner mit einer genauen Kenntnis der abendländischen Tradition, aber auch mit einer wunderbaren Leidenschaft. Es finden sich daneben auch historische Impressionen («Desperates Berlin der Zeit 1920») in diesem vielseitigen Band.
ich bin ganz aufgesperrt. Gedichte. Wunderhorn Verlag 2010
Rückseiten der Gesten. Gedichte. Zu Klampen Verlag 2003